Eisheilige Nacht feat. Frollein Anne

 

Das Jahr 2012, von den Medien und den Mayas als Weltuntergangsjahr eifrig beworben, neigt sich dem Ende zu. Ich heiße Jack, bin  46 smarte Jahre alt, mal mehr, mal weniger Single und habe  eigentlich noch nicht vor, ins Nirvana abzurauchen. Noch eine Woche trennt uns von dem magischen Datum 21.Dezember. Ganz egal, ob die Welt an diesem Tag das Zeitliche segnet oder einfach nur der 14.Baktun der Maya-Zeitrechnung beginnt- so ein Ereignis sollte man gebührend feiern. Wir hatten in der Clique schon einige Varianten einer Weltuntergangsparty diskutiert. Die meiste Zustimmung fand die Schnapsidee, uns neben schöngeistigen selbstgebrannten Getränken und geiler Partymugge mit THC-haltigen Nutzpflanzen den Abflug ins Ungewisse zu verschönern. Sollte wider Erwarten am nächsten Morgen der Himmel rosarot erscheinen, wüssten wir zumindest, woran das liegt. Und uns würde dämmern, daß man uns mal wieder kräftig verarscht hat und es nix war mit der Apokalypse. Aber wie das in manchen Cliquen so ist, herrscht auch bei uns bis jetzt noch keine Klarheit darüber, ob und wenn ja, wann und mit wievielen Leuten zu rechnen ist, die, wo auch immer, mit einem Glas in der Hand dem Untergang ins grinsende Auge schauen wollen. Am Ende wird das Ende ausfallen, ich seh es deutlich kommen.

Ich sitze im Büro, glotze müde auf den Monitor meines PC´s. Mein Handy macht „Plopp“. Ich gucke und finde eine Nachricht von Frollein Anne vor: „Hallo kleiner Freund, hättest du biiiitteeee am Freitagabend Zeit für mich und Subway to Sally?“ Frollein Anne ist eine begabte Friseurmeisterin und leitet die Filiale einer Friseurkette im städtischen Einkaufscenter. Eigentlich ist sie so gar nicht die typische Frisörin, sie glänzt weder mit überkandidelten Frisuren, schicken Fingernägeln oder Schminke. Sie steht im Salon als …das fröhliche, kleine Frollein Anne. Wir haben uns in ihrem Salon kennengelernt, als ich da mal kurz vor Feierabend herein schneite. Sie war genervt, weil ich mich nicht abwimmeln lassen wollte. Dann haben wir uns doch mehr als nett unterhalten und eine Stunde später waren wir zusammen essen. An diesem Tag begann unsere Freundschaft, die bis heute hält. Richtig heißt die 25-jährige, kleine Powerfrau Anne-Kathrin, legt aber Wert darauf, entweder Anne oder aber „AnKa“ genannt zu werden. Brav stellte ich mich vor und bat ihr das Du an: „Ich heiße Jack …“ „Hallo Jack, für dich Frau Kunze.“ Kunstpause. Das männliche Gehirn ist ein hochentwickeltes, äußerst kompliziertes Kunstwerk, das 90% seiner Rechenleistung in die Befriedigung von Urtrieben steckt. Der verbleibende Arbeitsspeicher reicht gerade eben für Beruf, Termine, Autofahren und simple Kommunikation. Da ist keine Kapazität mehr frei, um angemessen auf eine so völlig unerwartete Antwort zu reagieren. Die kleinen Rädchen ratterten und ich schwankte zwischen peinlichem Fettnapf und Begeisterung. Unsere behaarten Vorfahren hatten es da einfacher. Nicht nur, daß Namen vollkommen schnurz waren, wenn das Weibchen am Kochfeuer mehr als kulinarische Genüsse in Form von saftigem Wildrind zu bieten hatte, wurde sie an den Haaren in die Wohnhöhle des Mackers geschleift und fertig. Der Kultfilm „Am Anfang war das Feuer“ lässt grüßen.  Anne guckte amüsiert und kostete meine Sprachlosigkeit genussvoll aus, ehe sie weiter sprach: „Ich bin die Anne.“ Später habe ich als Gag mal das „Frollein“ vor ihren Namen gesetzt, eigentlich mehr, um zu provozieren. Sie zog ein unnachahmliches Gesicht, schob ihren Unterkiefer nach vorn und  lächelte mich an: „Frollein finde ich witzig, Herr Jack …“ Seitdem pflegen wir unseren Running-Gag bei jeder Gelegenheit.

 

„Wo ist denn das und wann geht´s los?“ antworte ich. Plopp! „Werk IV,  genaue Zeit hab ich nicht“, schreibt sie zurück. „Machst du dich bitte kundig? Ich komm dann bei dir auf Arbeit vorbei.“ Kurz vor halb 8 stehe ich bei ihr im Salon. Sie bedient gerade eine Kundin mittleren Jahrgangs, freut sich, als sie mich sieht und winkt mich heran. Über den Kopf ihrer Kundin hinweg sprudelt sie los, daß das Konzert in Dresden im Alten Schlachthof stattfindet und wie sie glaubt, 19 Uhr los geht. „Alter Schlachthof ist aber nicht Werk IV.“ „Ich weiß, ich hab mich verdacht, so steht es jedenfalls im Netz …“  „Verdacht?!“ Ich lache: „… Du bist echt herrlich.“ Die Kundin guckt verdutzt abwechselnd zu mir und ihr und jedesmal, wenn sie ihren mit Lockenwicklern verzierten Kopf dreht, rückt ihn Frollein Anne wieder zurecht. „Pass auf, ich kläre, was aus der Weltuntergangsparty meiner Freunde wird und sage dir Bescheid.“ „Orrr, bis wann weißt du das? Wir wollen doch am Weltuntergang nicht alleine sein. Ich will aber mit dir da hin.“ Sie legt ihre Stirn in Falten, blickt trotzig wie ein kleines Kind und beißt die Zähne aufeinander,  „Spätestens Mittwoch. Hast du überhaupt Karten und was kosten die?“, antworte ich. „Nöö, hab ich nicht, 30 oder 40 Euro …“ „Du willst mit mir zur ‚Eisheiligen Nacht‘ nach Dresden fahren und hast keine Karten?!“ „Klär erstmal, ob das bei dir klappt und dann kannst du dich immer noch um Karten kümmern …“ Ich glaubs nicht: „Ist das meine Idee? Wieso bin ich jetzt der Kartenbeschaffer? Und welchen Teil der Eventvorbereitung übernimmst du gleich nochmal? Festessen, Trinkerei, An- und Abreise?“ „Büüüdee. Du kennst dich doch da aus.“ In Ihrem Gesicht kann man als aufmerksamer Betrachter wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen. Mit ein bisschen Übung ist der Zustand Frollein Annes Zentralrechner an ihrem Gesichtsausdruck ablesbar. Sie wölbt die Unterlippe nach vorn und guckt mit ihrem überzeugendsten „Hab mich lieb“-Blick. Das kann nicht wahr sein, ihr fällt 5 Tage vor dem Konzert ein, daß sie da gerne hinfahren möchte und hat keine Karten. Und natürlich kann ich ihrem Bitten nicht widerstehen! Ich stehe sprachlos da und klappe meinen Mund wie ein Karpfen auf und zu. Die Kundin ergreift das Wort: „Sie beide sind so ein niedliches Paar. Ach, erfüllen Sie Ihrer Freundin doch den Wunsch.“ Wie aus einem Mund antworten wir: „Wir sind kein Paar!!!“

 

Am nächsten Tag steht fest, unsere Weltuntergangs-Party fällt aus. Damit ist der Weg frei, um mit Frollein Anne nach Dresden zur „Eisheiligen Nacht“ zu fahren. „Subway to Sally“, zur europäischen Elite der Mittelalter-Rocker gehörend, haben sich interessante Gäste eingeladen. Zum einen „Russkaja“ und zum anderen, passend zum Weltuntergangs-Szenario, die „Apokalyptischen Reiter“. Das verspricht spannend zu werden. Jetzt müssen nur noch Karten her. Ich klappere die Online-Shops ab, nichts. Rufe bei Vorverkaufsstellen an: Ausverkauft! Schicke meine Freundin Steffi in die Spur. Die kennt noch eine Vorverkaufsstelle in der Nachbarstadt und will dort extra wegen mir vorbei fahren. Es ist später Nachmittag, als ich mit Anne telefoniere: „Es sieht nicht gut aus mit Karten.“ „Hast du mal im Schlachthof angerufen, ob die an der Abendkasse was haben?“ „Was denkst, was ich den ganzen Tag mache? Ja, habe ich. Alles ausverkauft. Entweder wir fahren auf gut Glück hin oder das Konzert fällt für uns aus.“ Anne schweigt kurz am anderen Ende und ich stelle mir bildlich vor, welchen Gesichtsausdruck sie gerade hat: „Das heißt, wir haben keine Karten und fahren nicht? … Ich heul gleich …“ „Wenn du heulst, bleibst du da!“ „Denkst du, wir bekommen dort noch von jemandem ne Karte? Und was, wenn wir dann nur eine haben?“ „Wenn wir nur eine Karte bekommen, fahre ich dich auf den Weihnachtsmarkt, füttere dich mit gebrannten Mandeln und füll dich mit Glühwein ab. Dann geh ich auf das Konzert und hole dich danach wieder. Ich mach auch Fotos für dich.“ „Nee, das ist doof. Bis dahin wäre ich erfroren, außerdem haben die gar nicht so lange auf.“

 

Mittwoch, 19.12.: Das Beschaffen von Konzertkarten kann ein tagfüllendes Unterfangen sein. Ich schaue bei ebay, tippe „subway to sally“ ein. Die Suche liefert 3 Ergebnisse: 1 x Potsdam und 2 x Gießen. Naja, notfalls würde ich mit der kleinen hippeligen Frau auch dorthin fahren. Ich probiere „eisheilige nacht“. Bingo! Zwei Karten für Dresden. Hurra. Ich biete 32 € und warte. 16 Uhr läuft die Auktion aus. 3-2-1-meins. Ich war der einzige Bietende und hab nun zwei Karten für zusammen 32,-€. Allerdings müssen die aus Delmenhorst irgendwie nach Sachsen ins heimische May-City kommen. Ich schreibe den Verkäufer an, hinterlasse meine Handynummer und bitte darum, die Karten per Express-Nachnahme zu versenden. Die müssen bis Freitag 12 Uhr hier sein. Ich muss nachmittags noch einen Kunden mit meinem Besuch beglücken. Als ich Frollein Anne die frohe Botschaft überbringe, ist sie völlig aus dem Häuschen. Von nun an fragt sie im Zweistunden-Takt, ob ich eine Nachricht vom Verkäufer habe. „Anne, sobald ich irgendetwas weiß, erfährst du es.“ „Und hat der deine Adresse, damit der die gleich losschicken kann? Orr, hoffentlich beeilt der sich …“ „Vertrau mir einfach. Alles wird gut.“

 

Die Uhr tickt. Ich habe weder eine Nachricht vom Verkäufer erhalten, noch die ersehnten Karten. Freitag 13 Uhr. Es ist nichts angekommen. Also informiere ich Frollein Anne: „Vergiss unser Konzert heute Abend. Wir haben keine Karten. Ich muss jetzt erstmal zu meinem Kunden fahren. Der wartet schon seit einer Stunde. Ich melde mich heute Abend nochmal. Und … wehe du heulst jetzt!“ „Dann feiern wir beiden einsamen Seelen heute Abend doch nicht gemeinsam? Hmm, dann geh ich zu ner Freundin, Haare machen …“

 

Es ist Samstag der 22.12. Oder Tag 1 des 14.Baktuns der Mayas. Ich öffne vorsichtig meine Augen. Es regnet. Der Himmel ist weder rosarot, noch herrschen Temperaturen wie auf der Oberfläche der Venus. Alles scheint normal zu sein. Auf dem Parkplatz der Bäckerei gegenüber stehen keine UFO´s und außer den Einheimischen laufen keine komisch aussehenden Wesen hier herum. Was für ein riesengroßer Beschiss. Nicht mal auf das Ende der Welt kann man sich verlassen! Schrummsladen. Die groß angelegte Weltuntergangs Kampagne war wohl doch nur ein Werbegag des Präkariats-TV. Samstagmittag öffne ich meinen Briefkasten. Rechnungen, Mahnungen, Weihnachtsglückwünsche. Und ein zusammengeknitterter DHL-Briefumschlag auf dem in großen Lettern „Express“ steht. Die Karten! Tatsächlich sind die beiden Tickets drin. Leider zu spät. Scheinbar glaubten auch die Zusteller der Deutschen Post fest an den Weltuntergang oder verstehen unter „Express“ etwas gänzlich anderes. Neben dem Wetterbericht von gestern ist kaum etwas älter und uninteressanter als Karten für ein Event, was einen Abend zuvor stattfand. Ich fahre in Annes Salon. Frollein Anne klatscht begeistert in die Hände: „Wenn das originale Karten sind, behalten wir die natürlich.“ „Was willst du denn damit? Sie dir unters Kopfkissen legen oder an die Wand in deinem Wohnzimmer pinnen?“ „Ich dachte, du musst die eh nicht mehr bezahlen.“ Ich greife mir an den Kopf: „Anne, geht’s dir gut? Ich schicke die zurück! Gib her.“ Manchmal mache ich mir Sorgen um Anne. Einige Produkte der Haarverschönerungs-Industrie sind der Gesundheit meiner Lieblings-Frisörin wahrscheinlich nicht sonderlich zuträglich. „Lass uns am 30.Dezember nach Potsdam fahren. Soll ich für uns Karten bestellen?“ Anne lächelt und muss nicht lange überlegen: „Das ist eine gute Idee. Aber du fährst. Sonst kann ich ja während der Fahrt nicht schlafen …“ Diese Logik überrascht mich jetzt nicht wirklich. Ich beschließe, nicht weiter darüber nachzudenken.

 

Das Jahresend-Fress-und-Kaufrauschfest der Konsumgüter-Industrie, traditionell als Weihnachten bezeichnet, habe ich unbeschadet überlebt. Und nun kann ich mich auf das eigentliche Highlight des ausklingenden Jahres freuen. Die Karten für die „Eisheilige Nacht“ in Potsdam erklicke ich bei eventim. Schnell ausgedruckt, jetzt kann es losgehen.

 

30. Dezember: Frollein Anne ist mit paar Freunden zum Brunchen. Da es bis Potsdam rund 270 km sind, will ich gern gegen 15 Uhr losfahren. Vorsichtshalber beordere ich deshalb Anne halb 3 zu ihr nach Hause. Kurz vor 14 Uhr klingelt mein Handy: „Hier ist die Anne, also ich bin jetzt zu Hause ….“ Ist ja super. Ich trinke meinen Kaffee aus, packe die Karten ein und starte meinen Bus. Bis zu Anne sind es nur paar km. Ich bimmel sie kurz auf ihrem Handy an, wenig später steht sie neben mir. Schick zurecht gemacht. Wir fahren los. Unterwegs frage ich, ob sie zu Hause nochmal pullern war. Bei Anne ist regelmäßig akuter Pulleralarm, wenn ich mit ihr auf Konzerten oder Mittelaltermärkten unterwegs bin. Darum erkundige ich mich vorsichtshalber. Sicher ist sicher. „Ja, alles gut, keine Sorge“, gibt sie bereitwillig Auskunft. Na, da bin ich gespannt. „Schnallst du dich bitte an?“ Frollein Anne guckt stur geradeaus, als sie antwortet: „Ich schnall mich nie an. Da fühl ich mich so beengt …“ Gut, das ist ein Argument, aber ich lass nicht so schnell locker: „Wenn ich stark bremsen muss und dann von deinem sturen Kopf meine Windschutzscheibe blutig wird, machst du die Sauerei wieder weg.“ Sie dreht ihren rotblond gefärbten Kopf zu mir: „Wenn du so fährst, daß ich mir den Kopf blutig schlage und dann vielleicht tot bin, kann ich das nicht mehr selber wegmachen.“ „Dann reanimiere ich dich eigens zu dem Zweck, daß du hier alles wieder sauber machst …“ Ihr Gesichtsausdruck gibt unmissverständlich zu verstehen, daß die Diskussion für sie beendet ist. Ach, soll sie doch machen, was sie will. Stures Weib. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich auf ganz andere Dinge. Sie stellt die Sitzheizung auf die 4, fragt, wieso es bei mir im Bus noch nicht warm ist. „Is´n Diesel ‚Schatzi‘, das dauert. Ist dir kalt?“ „Ich bin eine Frau, da erübrigt sich die Frage! Natürlich ist mir kalt.“ Sie dreht auch die Heizung vorn und hinten auf Maximum und lehnt sich entspannt zurück.

 

Kurz vor Leipzig fahre ich nochmal tanken. Anne schläft tief und fest, mit der Schulter an die Beifahrertür gelehnt. Wenn die jetzt jemand aufmacht, kippt sie einfach hinaus. Von den Schaufenstern der Tankstelle kann man gut in meinen Bus blicken. Zwei Leute trinken Kaffee und amüsieren sich über die schlafende Frau auf dem Beifahrersitz. „Deine Freundin ist ja niedlich.“ Ich antworte, daß ich an ihrer Stelle lieber nicht heraus fordern würde, das im Traumland schlummernde Wesen zu wecken. Es könnte sich zur bösen Wildkatze mausern.

 

Unterwegs über A38 und A9 gen Potsdam kann ich nicht widerstehen und zücke mein Handy. Frollein Anne schläft schon über eine Stunde, das muss ich einfach fotografieren. Langsam bricht die Dämmerung über uns herein. Irgendwo bei Dessau erwacht die kleine Frau neben mir. Ich starte gerade das Navi auf meinem Handy. „Wo sind wir denn?“ Ich schaue zu ihr hinüber. Annes Frisur ist völlig verwuschelt. „Bei Dessau,  ne Stunde werden wir noch fahren, schätze ich …“ „Aha. Machst du jetzt erst dein Navi an?“ Ich nicke. „Heißt das, bis hierher sind wir blind gefahren?“ „Anne, ich hab 10 Jahre die polytechnische Oberschule besucht, ich kann Karten lesen und mich einigermaßen nach Wegweisern und Himmelsrichtungen orientieren …“ Anne macht ein undefinierbares Gesicht, dreht das Radio lauter und widmet sich ihrem Smartphone. Das Handy in der einen, wischt sie mit der anderen Hand auf ihrer Bluse herum. „Guck mal Jack, ich hab mich beim Schlafen total vollgesabbert. Hier …“ Sie dreht mir ihre rechte Schulter zu: „Orr, das ist alles nass. Bestimmt hab ich auch geschnarcht …“ Ich lache lauthals los: „Ich dachte immer, nur so ‚alte‘ Menschen wie ich sabbern im Schlaf. Schnarchen hab ich nicht gehört, vielleicht wegen der lauten Musik und den Fahrgeräuschen. Oder du sabberst still und leise ohne Schnarchgeräusche von dir zu geben.“ Wir fahren an einem Rasthof vorbei. „Anne? Pulleralarm?“ Sie schüttelt mit dem Kopf: „Ich geh dann, wenn wir da sind.“ Ok, sie ist ja schon groß. Wieso frage ich sie eigentlich?

 

Pünktlich erreichen wir die Metropolis Halle in Babelsberg. Direkt an der Halle gibt es ausreichend Parkplätze. Ich kaufe ein Parkticket für 3 € und steuere eine Lücke in der ersten Reihe an. Noch ehe ich eingeparkt habe, meldet sich Anne mit verkniffenem Gesicht: „Ich muss jetzt ganz dringend pullern, sonst mach ich mir in die Hose …“ Ich reiche ihr den Abfalleimer aus der Fahrertür. „Hier, sogar mit Deckel. Und der weiblichen Anatomie angepasst. Ich hab dich vor 5 min an der letzten Tankstelle gefragt.“ „Da musste ich aber noch nicht!“ Das Eimerchen will sie nicht, was mich auch gewundert hätte. Rechts hinter uns ist eine Baumgruppe, davor steht ein weißes Auto. 5 Leute sind gerade dabei, auszusteigen. Frollein Anne stößt einen erleichterten Seufzer aus. Gerade will sie die Tür öffnen, da fällt den Leuten aus dem anderen Auto ein, daß sie noch was vergessen haben. Sie kommen zurück und kramen 5 Flaschen Bier hervor. „Orr, die wollen doch jetzt nicht am Auto ihr Bier saufen? Können die das nicht woanders machen?“ „Soll ich hingehen und fragen, ob sie sich so lange umdrehen, bis du fertig bist? Jetzt geh hinter den Baum dort und fertig.“ Sie schüttelt den Kopf. „Dann denken die doch, ich bin pervers, wenn ich jetzt hinter dem Baum verschwinde. Die wissen doch ganz genau, was ich dort mache. Da mach ich lieber in deinen Bus …“ Ich atme tief durch und verdrehe die Augen. Nur ruhig bleiben. Vor meinem geistigen Auge mal ich mir aus, wie lange wohl eine Beziehung zwischen Frollein Anne und mir gut gehen würde, ohne daß einer den anderen umbringt. Sie sitzt leicht zusammengekrümmt da und macht Geräusche, als hätte sie Wehen. „Pass auf, ich opfere jetzt unsere spektugale Parklücke und fahr mit dir ans andere Ende des Parkplatzes. Selbst wenn dort meterhohe Disteln stehen sollten, gehst du dort pullern!“ Sie nickt dankbar. Ich fahre in die hinterste Ecke des Geländes. Andere fahren uns hinterher, was Anne wiederum nervös macht: „Da kommen uns welche hinterher. Müssen die ausgerechnet in die gleiche Richtung fahren wie wir?“ „Anne, bei einem nahezu ausverkauften Event kann es durchaus passieren, daß man auf einem Parkplatz noch andere Leute trifft!“ Zwischen abgestellten Catering LKW´s parke ich den Bus. „Hier ist ein Platz, wie geschaffen für dich …“ Sie streckt mir die Hand hin: „Taschentuch!“ Ich zeige mit ausgestrecktem Arm auf die Beifahrertür: „Küchenrolle!“ Sie reißt ein paar Blätter ab, steigt aus und verschwindet hinter einem der LKW´s. Erstaunlich schnell und sichtlich erleichtert ist sie wieder da. „Anne, darf ich dich mal was fragen?“ Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Bist du dir sicher, daß DU in deinem Leben bisher fast alle Beziehungen beendet hast?“ Sie schaut mich mit einem erstaunten Blick an: „Meinst du, ich bin etwas kompliziert? …… Nein, oder …?“ Ich mach „Pfffff“ und zucke mit den Schultern. „So, jetzt noch schminken, dann können wir uns anstellen.“ Ich ziehe vor Schreck ein Gesicht wie Scrat von „Ice Age“, wenn ihm wiedermal die Eichel abhanden gekommen ist. „Dann beeil dich aber bitte … Konntest du das nicht unterwegs machen?“ Ich fahre zurück in die vorderen Reihen des Parkplatzes und glücklicherweise ist unsere Lücke noch frei. „Nee, da hab ich ja geschlafen, außerdem kann ich während der Fahrt keinen geraden Strich ziehen.“ Anne beginnt, sich zu schminken und zu meiner großen Freude ist sie sehr schnell fertig. „Was soll ich anziehen, nur das Shirt oder das Leinenhemd drüber?“, frage ich sie. Sie guckt und entscheidet, ich solle das Hemd drüber ziehen. Bei Konzerten ist es manchmal klug, wenn man seine Jacke im Auto lässt. Das erspart das lange Anstellen an der Garderobe. Wir ziehen ohne Jacken los. Der Einlass hat noch nicht begonnen, obwohl es schon kurz vor 19 Uhr ist. Frollein Anne steckt sich eine Zigarette an. Sie beginnt zu zittern. „Soll ich deine Jacke aus dem Auto holen?“ Anne zieht an ihrer Zigarette und klappert deutlich mit den Zähnen. Keine Antwort. Normalerweise müsste ich sie einfach frieren lassen. Ich weiß, daß sie sich daraus ein Spiel macht und es insgeheim genießt, wenn man sich um sie sorgt. Also laufe ich ans Auto und bin wenige Minuten später mit ihrer Jacke zurück. Höflich wie ich manchmal bin, will ich ihr in die Jacke helfen. „Hörst du mal auf, mich zu bemutteln? Die Leute denken schon, du bist mein Vati.“ Tz, ich fass es nicht. Ich zieh sie zu mir heran. „Ich kann dich ja hier vor allen Leuten küssen, dann denken die bestimmt nicht, daß ich dein Vati bin.“ Sie schaut mich an und ihr Blick sagt mir „wehe“. Ich blicke böse zurück. Dann schaue ich in die Runde. Einige, die in der Nähe stehen, grinsen uns an. Klar, die denken auf jeden Fall, daß wir ein Paar sind, da muss ich die kleine Zicke nicht mal küssen.

 

Es geht langsam voran. Endlich haben wir den Einlass passiert und stehen im Vorraum. Anne stellt sich an der Garderobe an, ich halte Ausschau an den aufgebauten Verkaufsständen. Eine Event-CD für 1 € war gegen Vorlage der Eintrittskarten angekündigt worden. Die will ich natürlich unbedingt haben. Anne auch, logisch. Hier draußen finde ich die allerdings nicht. Nach einer halben Ewigkeit ist Anne ihre Jacke los und wir können uns einen Platz im Saal suchen. Wenn man nicht sonderlich groß ist, ist es von Vorteil entweder ganz hinten zu stehen oder ganz vorn. Wir entscheiden uns für ganz vorn. Auch, weil Anne ihre Brille erst gar nicht mitgenommen hat und meine ebenfalls im Auto liegt. Kleine, resolute Frauen als Begleitung zu haben, eröffnet mühelos den Weg bis ganz nach vorn. Wir stehen in dritter Reihe vor der Bühne- die Party kann beginnen. „Subway to Sally“ starten ihre Zeitreise, mit Titel aus den Anfängen der Band, Mitte der 90er. Die erste Stunde des Konzerts vergeht wie im Fluge und in der Umbau-Pause gehe ich auf die Pirsch nach der Event-CD. An einem der Stände werde ich fündig und gegen Vorlage unserer Eintrittskarten bekomme ich das begehrte Objekt. Doch wohin jetzt damit? Annes Handtaschen-Universum erweist sich unerwartet als zu klein, kurzentschlossen steckt sie sich ihr Exemplar in den Bund ihres Rockes. Sie guckt mich triumphierend an. „Und was machst du, wenn die CD nach unten raus rutscht?“, frage ich. „Mach dir da mal keine Sorgen, da rutscht nichts raus …“ Ich wölbe meine Unterlippe nach vorn und mache ein erstauntes Gesicht. Wenn das bei Frollein Anne klappt, wird das bei mir erst recht gehen. Zack, Problem gelöst.

 

„Russkaja“ betreten die Bühne und bringen ordentlich Schmackes in die Bude. Ein Band-Leader mit einer Statur wie Iwan Rebroff und einer mächtigen Stimme heizt die Massen an. Die Mischung aus russischer Foklore und Metal-Rock gefällt. Mir fällt eine junge, schlanke Frau auf, die neben uns allein tanzt. Nach der nächsten Pause treten die „Apokalyptischen Reiter“ auf, finster drein blickende Sangesbarden, deren Lieder nicht so ganz unseren Geschmack treffen. Allerdings ist die Bühnenshow sehenswert. Vor uns stehen 3 Typen, die wohl allesamt beschlossen hatten, ihr Längenwachstum erst jenseits von 1,80 m einzustellen. Sie winken noch zwei weitere sehr groß gewachsene Menschen heran. Ein schicker Kerl mit langen Haaren und Lederjacke zwängt sich nach vorn, begleitet von einer riesigen Frau. Die beiden pflanzen sich ausgerechnet vor Anne auf- und bleiben dort stehen. Annes Blick brennt dem Rocker vor ihr fast ein Loch in die Lederjacke, so böse guckt sie. Irgendwann dreht sich der Typ um und schaut nach unten: „Oh, du siehst bestimmt nicht viel, oder …?“ Anne schnappt nach Luft: „Doch, ich seh deine Jacke!“ Der Typ legt ein Grinsen auf und schiebt Anne und mich ein Stück nach vorn. Na also, geht doch. Auf derartigen Konzerten habe ich bisher nie schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn dir beim Tanzen und Springen so ein Bär von Mann aus Versehen auf die Füße tritt, entschuldigt er sich in aller Regel tausendmal und gibt dir manchmal sogar was von seinem Bier ab. Oder wie in diesem Fall, machen die Riesen etwas Platz. Jetzt erst merke ich, daß die allein tanzende Frau wieder neben uns aufgetaucht ist. Ich schau sie an, sie guckt zurück. Dabei fällt mir auf, daß ihr Interesse wohl auch Frollein Anne gilt. Die jedoch so tut, als würde sie es nicht mitbekommen. Sie kommt näher und spricht uns an: „Ihr kommt bestimmt aus meiner alten Heimat, hör ich am Dialekt. Ich bin in Dresden geboren.“ „Ja, wir kommen aus der Nähe von Chemnitz“, antworte ich. „Toll, ich bin die Janett, wie Ja und nett ..“ „Das ist nett, meine Begleiterin hier heißt Anne, ich bin der Jack.“ Sie guckt ungläubig. „Jaaa, tut mir leid, ich heiße tatsächlich Tschäck.“ Paar Minuten später haben wir unsere Adressen bei Facebook ausgetauscht, schließlich wollen wir ja mal Bilder und Videos von der „Eisheiligen Nacht“ tauschen. Die „Apokalyptischen Reiter“ sind fertig und die letzte Umbaupause beginnt. Jetzt werden gleich nochmal „Subway to Sally“ mit ihrem aktuellen Programm die Bühne betreten. Ich hol Anne und mir was zu trinken. Anne nippt an ihrem Becher und schaut mich an: „Was wollte die denn von dir?!“ „Nichts, wir haben uns unterhalten und ich habe ihr auf Facebook eine Freundschaftsanfrage geschickt.“ „Wozu denn das??“ „Wozu macht man das? Um miteinander in Kontakt zu bleiben, Fotos und Videos auszutauschen. … Was weiß ich …“ Anne lässt nicht locker: „Willst du was von der ...?!“  Sie funkelt mich mit ihren blaugrauen Augen an. Janett ist mittlerweile auch wieder da. Ich merke, wie ich rot anlaufe. Auch das noch!

 

Der Act von „Subway to Sally“ ist absolute Spitze. Die Stimmung erreicht ihren Höhepunkt. Janett tanzt neben mir, Anne vor mir. Ab und zu dreht sie sich zu mir um. Ihre Frisur hat sich inzwischen in Wohlgefallen aufgelöst, was ihr ein wild rockiges Aussehen verleiht. Nach mehreren Zugaben sind über 4 Stunden eines fulminanten Konzertes vorbei. Einem Reflex folgend fahre ihr übers Haar, um ihre wild abstehenden Locken glatt zu streichen. Abrupt dreht sie sich zu mir um und stellt mit geschickten Fingern den ungeordneten Zustand auf ihrem Kopf wieder her. „Du sollst nicht egal meine Frisur zerstören!“ Da gibt es nicht mehr viel zu zerstören, denke ich, spreche es aber vorsichtshalber nicht aus Hoffentlich fragt jetzt keiner nach Annes Beruf. „Findest du deine Garderobenmarke noch in deinem Handtaschen-Universum?“ Für alle Fälle hab ich die Marke vorhin abfotografiert, man weiß ja nie.^^ „Ja, die hab ich hier.“ Freudestrahlend hält sie mir die Garderobenmarke vors Gesicht. Ich schau mich um, wo ist die Janett jetzt so schnell hin? Ah, da steht sie ja. In ein Gespräch vertieft, lehnt sie am Absperrgitter vor der Bühne. Ohne mich zu verabschieden, will ich nicht gehen. Das wäre unhöflich. „Dann stell dich schon mal an der Garderobe an.“ Anne stapft los, bleibt nach einigen Schritten aber stehen, macht kehrt und ruft mir zu:. „Orr, worauf wartest du denn noch? Kommst du jetzt endlich?“ Ich stehe wie angewurzelt da: „Du wolltest zur Garderobe gehen. Ich komm gleich ….“ Anne steht da und stampft mit dem Fuß auf: „Sag doch, wenn du dich noch von ihr verabschieden willst.“ Sie bläst sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Oh nein, alle um uns herum gucken. Den kleinen Wutzipfel lasse ich stehen und gehe zu Janett. Drücke sie nun erst recht zum Abschied und bekomme einen Schmatzer auf die Wange. „Nun geh mal lieber zu deiner Freundin, bevor die noch richtig sauer wird.“ Anne steht mit verschränkten Armen da und funkelt mich böse an: „Bist du nun fertig? Können wir jetzt endlich gehen?!“ Ich laufe ihr  amüsiert und mit einer leichten Genugtuung hinterher und frage mich, was das gerade war. Anne macht mir hier tatsächlich eine filmreife Szene! Ich genieße für einen Moment ihre offensichtliche Eifersucht. Leider komme ich nicht dazu, diese neue Seite von Frollein Anne so richtig auszukosten. Sie bleibt urplötzlich inmitten des Saales stehen, so daß ich fast über sie stolpere: „Mein Stiefel ist offen. Machst du mir den mal zu?“ Ich laufe um sie herum, fasse sie am Arm und schaue ihr in die Augen: „Wie heißt nochmal das Prinzessinnen-Zauberwort? Naaaa? Außerdem haste dir deine Stiefel zu Hause doch auch selbst zugebunden. Ich knie mich doch hier nicht hinter dich!“ Ich tippe mir an die Stirn. Anne macht ein Gesicht, das, wäre sie Wetter-Moderatorin, einen Tiefausläufer mit Hagel, Sturm, Blitz und Donner ankündigen würde. Sie macht eine kurze Pause und sagt wider Erwarten leise: „Mach mal, … büüdee.“ Ich schnaube und knie mich hinter sie: „Halt bitte still!“ Dann binde ich ihr eine Schleife an ihren kniehohen Stiefel. Gefühlte tausend Augenpaare spüre ich auf uns gerichtet. Ich stehe auf und ziehe sie am Arm aus dem Saal. Ach, wie peinlich. Jede andere Frau hätte ich einfach stehen lassen. Doch ausgerechnet bei jemandem, mit dem ich eine rein freundschaftliche Beziehung pflege, mache ich mich vor anderen total zum Obst. 10 Minuten später hat Anne ihre Jacke wieder und wir gehen zum Auto. In Gedanken versunken läuft sie neben mir her. Von der Seite schaue ich sie an. Irgendwie kann man ihr gar nicht böse sein, egal, was sie anstellt. „War ein geniales Konzert“, sage ich. Anne ist genauso begeistert und macht ein glückliches Gesicht. „Die haben ‚Die Schneekönigin’ aber gar nicht gespielt. Mein Kumpel meinte, in Dresden hätten sie das bei der Zugabe gemacht.“ Hmm, das Lied kenne ich gar nicht. Ich schaue auf die CD, die das Konzert unbeschadet überstanden hat. Tatsächlich, dort ist es mit drauf, in einer Version von „Letzte Instanz“, auch sehen- und hörenswerte Mittelalter-Rocker. Ich lege die CD ein und starte den Bus. „Ich hab Hunger, ob wir irgendwo noch was zu essen bekommen?“, meldet sich Frollein Anne. „Sicher. Lass uns unterwegs mal schauen.“ Und wir fahren langsam gen Heimat.

 

Es ist kurz vor 1 Uhr als ein Autohof in Sicht kommt. Anne schläft, diesmal hat sie ihren Kopf auf die linke Armstütze gebettet. Ich fahre von der Autobahn ab und steuere eine Ami-Fressbude von Mc Donalds an. Frollein Anne wacht auf: „Mir is draußen zu kalt, lass uns mal an den Mc Drive-Schalter fahren.“ Gut, meinetwegen. Ich halte an der großen Tafel, wo sämtliche Menüs aufgelistet sind. „Was gibt´s zu dem großen Mc-Rib-Menü noch dazu? Ich kann das ohne Brille nicht erkennen.“ Ich lese vor, was es alles als Menü-Sonderausstattung gibt. „Nee, das mag ich nicht. Lies mir mal bitte vor, was es als Dessert zu dem Mc Chicken gibt …“ So geht das noch eine Weile. Plötzlich wird es dunkel um uns herum. Ich schau zu Anne, sie guckt verdutzt zurück: „Sag bitte, daß die jetzt nicht gerade zu gemacht haben … Ich hab so einen Hunger.“ Ich komme mir vor, als wäre ich einem Streich der „versteckten Kamera“ zum Opfer gefallen: „Anne, ich sag mal so, die machen um 1 Uhr zu, es ist 1:02 Uhr. Die können nicht ahnen, daß ich meiner Beifahrerin die gesamte Speisekarte vorlesen muss …“ Anne lacht: „Für uns zwei hätten die ruhig noch bissel warten können … Orr, mir is kalt.“ Ich krieche nach hinten und hole eine Decke. Darin wickel ich sie ein. Irgendwie komme ich mir gerade wie ein Vati vor. Schlimm. Da fällt mir die Situation vor dem Konzert wieder ein, als ich ihr in die Jacke helfen wollte: „Übrigens …., wenn du nochmal sagst, ich benehme mich wie dein Vati, dann leg ich dich mal übers Knie.“ Frollein Anne nickt wortlos und macht es sich auf Beifahrersitz und Armstütze bequem. Sie zieht sich die Decke bis zur Nase, daß nur noch ihr Lockenkopf zu sehen ist. Dann liegt sie zusammengerollt wie eine Mietzekatze auf dem Sitz. Kurz danach schläft sie schon wieder. Fehlt nur noch, daß sie anfängt, zu schnurren.

 

Paar km weiter ist eine Tankstelle direkt an der Autobahnabfahrt. Mal schauen, ob wir hier was Essbares bekommen. Anne blinzelt verschlafen: „Wo sind wir?“ „Irgendwo bei Bitterfeld. Du hast doch Hunger, oder?“ Wir gehen in den Shop der Esso-Tankstelle. Die junge Frau hinter der Theke ist freundlich und fragt nach unseren Wünschen. Anne steht neben mir und guckt nur. Die Verkäuferin wendet sich an mich: „Was darfs bei Ihnen sein?“ „Ich nehme eine Bullette mit Senf und Brötchen“ Ich schaue zu Anne: „Anne, was möchtest du essen?“ Sie dreht wie in Zeitlupe ihren Kopf zu mir und schaut mich total verbimmelt an: „Ich überlege noch …“ Die Verkäuferin guckt etwas mitleidig auf meine schlaftrunkene Begleiterin. „Es ist alles in Ordnung. Meine Begleiterin ist noch im Standby-Modus“, erkläre ich. Sie nickt verständnisvoll. Anne verharrt mit über kreuz geschlagenen Beinen vor dem Tresen. Eigentlich ein einmaliges Fotomotiv. Aber ich hab mein Handy im Bus gelassen. Sehr schade. So in etwa stelle ich sie mir am Frühstückstisch vor. Ich hab mein Essen schon, als sich Anne endlich entschieden hat. „Ich nehm einen Hamburger und ein belegtes Baguette“

 

Sie kaut an ihrem Baguette, macht ein leises Bäuerchen und schiebt mir ihren Hamburger rüber. „Puhhh, ich glaube, ich schaff den nicht. Willst du die Hälfte haben?“ „Ich fang jetzt aber nicht an, das Fleischbrötchen in der Mitte zu teilen. Du wirst damit leben müssen, daß ich einfach abbeiße …“ Anne lacht mich mit vollem Mund an: „Daran werde ich nicht sterben. Wir haben doch die gleiche Krankheit.“ Ich beiße ab und prompt rutscht mir das Fleisch samt Salat aus den Brötchen-Hälften. Klar, daß das für Anne ein gefundenes Fressen ist. „Na alter Mann, kommst du zurecht?“, prustet sie los. „Ja ja, kein Problem. Dafür sabber ich nicht im Schlaf …“ Wir lachen beide. Gesättigt und zufrieden steigen wir in den Multivan. Anne wickelt sich in ihre Decke, rollt sich auf dem Sitz zusammen und ist schon wieder im Traumland, ehe wir auf der Autobahn sind. Am nächtlichen Himmel ist die ein oder andere Feuerwerksrakete zu sehen, der 31.Dezember bricht an. Zwei Stunden später biege ich in die Straße zu Annes Wohnung. Wie auf Knopfdruck ist Frollein Anne wach. Sie sammelt ihren Krimskrams ein und steigt aus. Ich laufe ums Auto, nehme sie kurz in den Arm und gebe ihr ein Küsschen auf die Wange. „Hat mich sehr gefreut, mit dir so einen geilen Abend und eine aufregende Nacht zu verbringen.“ Anne lacht: „Stimmt, das war richtig schön. Sowas machen wir wieder mal. Komm gut ins neue Jahr …“ Ich steige ein und fahre die 10 km bis zu mir. Was für ein verrücktes Event. Darüber müsste man eigentlich eine Kurzgeschichte schreiben …

 

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